„Sechs Jahre kannst du in deinem Land säen und die Ernte einbringen, im siebten sollst du es brach liegen lassen und nicht bestellen“ (Ex 23,10-11)
Im Sinne der alten jüdischen Tradition nicht nur die Lehrtätigkeit einmal ganz ruhen zu lassen, sondern auch mit der altgewohnten künstlerischen Technik, dem großformatigen Farblinolschnitt eine Zeit zu brechen, den Heimatort Weißenfels zu verlassen und dem eigenen Atelier den Rücken zuzukehren, zog ich ein Jahr lang mit Griffel, Papier und Farben, durch verschiedene Landschafts-, Kulturräume und Druckwerkstätten Europas.
Es braucht von Zeit zu Zeit für jeden Künstler einen Schnitt und das Wagnis zum Experiment. Nur so kann er die Selbstkontrolle behalten und dabei gleichzeitig entdecken, was für Fähigkeiten und Reste noch in ihm schlummern. Es ist eine Chance, neue Impulse von außen aufzunehmen und eigene Erfahrungen mit anderen zu teilen.
Weißenfels sollte nicht nur der Ausgangs- und Endpunkt meiner Reise sein, sondern auch die Mitte, von der aus ich mich an der Peripherie entlang vom Süden nach Norden bewegte – von Wien nach Basel, dann in die Berge und Täler des Tessins in die Casa Egner nach Locarno, um das Zeichnen in der Natur wieder zu aktivieren, über Amsterdam, Odense bis nach Boras in Schweden.
Ehrfurcht vor den großen Meistern
Bevor ich als Artist in Residence in vier verschiedenen Druckwerkstätten zu arbeiten begann, galt meine Referenz den großen „Meisterhandschriften“ der Kunstgeschichte. In der Albertina in Wien, die mit ca. 65 000 Grafiken die weltgrößte grafische Sammlung beherbergt, konnte ich einen Monat lang fast täglich originale Druckgrafiken und Handzeichnungen studieren. Alexandra Iby betreute mich bei dieser Arbeit vorzüglich und ermöglichte es mir sogar, Druckstöcke aus der Werkstatt Albrecht Dürers sehen zu dürfen.
Jeden Tag meisterhafte Blätter, angefangen von den großen Druckgrafikern der Renaissance über die Meister des japanischen Farbholzschnittes der Edozeit bis hin zu Picassos Linolschnitten und Lithografien. Es war mir Genuss und Ehrfurcht zugleich, immer wieder entsprechende Pfade wie zum Beispiel dem der großen Radierer Rembrandt oder Hercules Segers über Goya bis hin zu Käthe Kollwitz entwickeln zu dürfen und der Technik und dem Zeitgeist zugleich nachspüren zu können.
Die protestantische Gravüre und die moderne Technik
Die Druckgrafik, die hier in Mitteldeutschland eine lange Tradition hat und durch die Reformation eine Blütezeit erfuhr, führte mich nicht von ungefähr in die Druckwerkstätten solcher Städte wie das einst reformierte Basel und das calvinistische Amsterdam oder lutherisch geprägte Länder wie Dänemark und Schweden. Hier hat die Grafik tiefe Wurzeln, sind die Bildthemen eher von einfachen Handlungen und Alltagsszenen und vom Sinn für Natur bestimmt.
Gerade in den nordischen Ländern gibt es auffällig mehr druckgrafische Werkstätten, die unmittelbar mit Artistresidencen gekoppelt und gut miteinander vernetzt sind. Das zeugt von einem ambitionierten Verhältnis zur Druckgrafik und einem ästhetischen Bewusstsein, das auf breiteren Schultern in der öffentlichen Wahrnehmung steht. Es ermöglicht hier den freien und unabhängigen Künstlern und Interessenten die Nutzung außerhalb des Akademiebetriebes. In Druckwerkstätten, die sich selber tragen müssen und auf die Unterstützung durch die Kommunen angewiesen sind, müssen die Künstler sich sehr viel stärker organisieren und sind vor allem auf Solidarität und Austausch ihrer Erfahrungen angewiesen. Jede einzelne Werkstatt, in der ich arbeitete, hatte ihren eigenen Charakter und setzte unterschiedliche Schwerpunkte. Überall war ein hohes Maß an Engagement, Hilfsbereitschaft und Interesse der Verantwortlichen und Akteure spürbar. Vertrauen ist die Voraussetzung dafür.
Das zeigte sich nicht nur an der Resonanz in Bezug auf meine Präsentationen und Artist Talks am Ende jeder Residence, sondern auch darin, dass es mir immer wieder gelang, andere Künstler zu einem Tausch ihrer Druckgrafiken mit mir zu animieren. Deshalb zählt neben den vielen eigenen Arbeiten auch eine kleine kostbare Grafiksammlung zum Ertrag meiner Reise. Neugierig auf das Andere und Fremde sind die Wenigsten von sich aus. Das Soziale und Warmherzige allerdings erlebe ich immer wieder unter Druckgrafikern. Sie erscheinen mir manchmal wie eine große Familie, die auf einer Meta-Ebene miteinander verbunden ist.
Die Zusammenarbeit mit internationalen und regionalen Künstlern gab mir nicht nur einen Überblick über die inhaltlichen und ästhetischen Fragen, die die Einzelnen umtrieb, sondern brachte auch reichlich Impulse mit sich, um neue Techniken auszuprobieren. Es war sehr überraschend zu sehen, wie viele hybride Techniken inzwischen in der Druckkunst entwickelt wurden und prominent sind.
Zwischen Umfeld, Werkstatt und Inspiration
Nachdem ich in Wien an einem Workshop für japanischen Farbholzschnitt bei einer jungen begabten Künstlerin, Renata Darabant, teilnahm und erste Erfahrungen mit dem Material und einer anderen Bildsprache machte, sollte mich das Medium Holz auf allen Stationen begleiten. Dennoch ahnte ich nicht, wie sich der Umgang dann anschicken würde und womit ich schließlich enden werde.
Da der Wechsel zu ungewohnten Techniken vordergründig war und eine solche in der Regel hart erarbeitet werden muss, stellte ich die bewusste Themensuche vorerst in den Hintergrund. Ich ließ die Orte auf mich wirken.
Das unmittelbare Erleben der unterschiedlichen Landschafts- und Stadträume, das Erfassen der Formen, Farben und Flächen mit Bleistift und Skizzenbuch und das Sammeln von einfachen symbolbeladenen Bildelementen, wie den Brücken, Schiffen oder Seilen des alten Seefahrervolkes der Holländer, bildete dabei die Grundlage für meine Bildmotive.
Im Werkraum WARTECK mit dem Druckwerk Basel war der Holzschnitt noch das zentrale Element, während in AGALAB in Amsterdam der verhältnismäßig junge Siebdruck in Kombination mit dem Holz unerwartet Präferenz hatte. Die Druckwerkstatt bot nicht nur genügend Raum und die entsprechenden technischen Vorrichtungen dafür, sondern ging mit der Dynamik und dem enormen internationalen Fluidum der Stadt einher. Nach meinem Empfinden gibt es immer eine Wechselwirkung zwischen dem Umfeld und all seinen Parametern, die es maßgeblich mit prägen und der eigenen Inspiration zur Arbeitsweise und Lebensfreude.
Während in Basel und Amsterdam und Ålgården die Werkstätte in ehemaliger Industriekultur angesiedelt sind, überraschte Odense mit einer kleinen aber feinen Werkstatt nebst Galerieanbau mitten in der Stadt, neben dem Hans-Christian-Andersen-Haus gelegen. Hier waren Workshop, Kommunikation und Kommerz miteinander verbunden.
Dort der Grenzfluss Rhein und die Erhabenheit der Berge, da der niedrige Horizont, der Wind, die Grachtenstadt und das Meer und hier die liebenswürdigen Ostseeinsellandschaften und der märchenhafte Zauber der Stadt durch die Fachwerk- und Backsteinarchitektur. Ich hätte nicht gedacht, dass ich in dieser Werkstatt noch einmal die Radierung für mich reaktiviere und ein malerisches Element in den Monotypien finde. Zu Letzterem inspirierte mich eine junge Künstlerin aus Leipzig, Christina Wildgrube, mit der ich die Residenz und so manches Erlebnis hier geteilt habe.
Die Freude an der Monotypie sollte mir in Schweden mit seinen weit auslaufenden Wäldern und dem inseldurchwobenen Küstenraum Skärgårds bei Göteborg bleiben. Ein idyllisches Umfeld am Rande der Stadt Borås und eine Druckwerkstatt, in der es an nichts fehlte, boten Konzentration auf die Arbeit und ideale Bedingungen dafür. Von hier aus der Werkstatt in Ålgården konnte ich mit der Teilnahme an der Edition Basel auch wieder den Bogen zum Beginn meiner Reise schlagen. Jährlich finden zwei Sessionen mit internationalen Künstlern dort statt. In der Regel wird gemeinsam ein aktuelles Thema vor Ort erarbeitet und bildnerisch druckgrafisch umgesetzt. Die Corona-Pandemie hinderte zwar eine Vielzahl der teilnehmenden Künstler am Kommen, nicht aber am Einfallsreichtum und an der Zusammenarbeit. Meghan aus Malmö und Margarit aus Basel hielten an der Edition fest, moderierten über den Cyperspace und kuratierten letztlich die Ausstellung erfolgreich unter dem Titel Passage to Manywhere in der historischen Papiermühle in Basel.
In zweierlei Hinsicht bin ich selbst erstaunt über meine Reise. Zum einen, dass ich eine Zeit ohne Unfall, Krankheit, Verluste oder jeglicher andere Komplikationen geschenkt bekam und immer ein gutes Bett hatte. Zum anderen, dass sich für mich trotz Corona die Tore in den Residenzen geöffnet haben, und ich vielen positiven und kreativen Menschen begegnet bin, die ihre künstlerische Arbeit ernst nehmen und in der Kunst nicht nur einen Weg sehen, sich auszudrücken, sondern selbstverständlich miteinander teilen.
Christina Simon
Novalisstraße 13
06667 Weißenfels
Tel. 03443 207053
Mail atelier@christinasimon.de