Suche
Close this search box.

TEXTE

1. Kunst, die nicht zur höheren Ehre

    Gottes dient, ist wertlos!

 

2. Kunst ist aus der Zukunft und muss

    vor der wissenschaftlichen

    Erkenntnis sein!

 

3. Kunst muss einen Zweck haben –

   meine Bilder sollen dem Betrachter Kraft geben!

 

4. Jemand hat verboten, dass Bilder gefällig sein dürfen.

    Daran halte ich mich nicht!

 

5. Ich bin im Erhalten des Wertvollen  

    konservativ bis zum Äußersten!

 

6. Ich räume auf, schaffe Ordnung

    und trete der Welt konkret gegenüber.

 

7. Kunst ist eine nüchterne

    Angelegenheit! – Ich habe keine Emotionen, dafür viel Gefühl,  

    zwischen kalt und heiß zu unterscheiden.

 

8. Ich drucke nicht für die Auflage,

    sondern erarbeite ein Unikat mit

    druckerischen Mitteln!

 

9. Meine Arbeit ist ein Gebet –

          9,5. insofern bin ich Lutheristin!

 

 

Weißenfels,  2001

Christina Simon ist eine Suchende, eine Pilgerin mit dem Schnittmesser als Wanderstab. Belesen und philosophierend über Sinn und Unsinn in der Welt und darüber hinausgehende existentielle Fragen setzt sie sich gestalterisch mit der Ambivalenz menschlichen Seins auseinander. Dass dabei neben dem Feld der griechischen Mythologie vor allem das Alte und Neue Testament wesentliche Quellen und Inspirationshilfen darstellen, kann kaum verwundern. Die bildgewaltigen, mit Metaphern, Allegorien und Symbolen gefüllten literarischen Hauptwerke des Abendlandes waren in den zurückliegenden Jahrhunderten das bevorzugte Reservoir, auch auf dem Gebiet der Bildenden Kunst. Und dennoch befragt Christina Simon die Texte auf ganz eigene, sowohl religionsphilosophische als auch allgemeinmenschliche Weise. Die ausgebildete Religionspädagogin erscheint dabei fast wie eine Ruferin im weitestgehend atheistischen Umfeld ihrer Heimatstadt Weißenfels. Die tiefgründige Gedanklichkeit ihrer Werke, gerade der letzten zwanzig Jahre erscheint dabei nie vordergründig, sondern im ästhetischen Gewand kunstvoll arrangierter Linien, sinnlicher Formen und intensiver Farben.

Ihre protestantische Herkunft und der vom Luthertum geprägte mitteldeutsche Raum, in dem sie seit ihrer Geburt lebt, scheinen der Künstlerin zufolge wohl auch sie selbst und ihr künstlerisches Schaffen beeinflusst zu haben. Ihre Passion für grafische Drucktechniken, aber auch ihre künstlerische Eigenwilligkeit und die gewisse Sprödigkeit ihrer Arbeiten mögen Indizien dafür sein. Insbesondere durch den frühen Protestantismus hatten druckgrafische Techniken einen wesentlichen Aufschwung erhalten, wobei das Wort neben dem Bildhaften eine erhebliche Rolle spielte. Das auf Vernunft, Klarheit, Strenge und Nüchternheit setzende Prinzip des Protestantismus, der seinen Höhepunkt im Pietismus und leistungsorientierten Calvinismus fand und der sich in gewisser Weise auch im Rationalismus der DDR-Zeit widerspiegelte, ist Christina Simon wesenseigen. Nach eigener Aussage sei  ihr eine innere Harmonie so nicht gegeben. Stattdessen fände sie „in dem harten und widerspenstigem Material und den absoluten, klaren und manchmal spröden bzw. kalt wirkenden Linien mehr Reiz zur Andacht, als in lieblichen, malerischen gefühlsbetonten Pinselstrichen“.  Letzteres  versteht sie wertungsfrei. Aus dieser inneren Haltung resultiert auch ihr Interesse an Ikonen, die auf den Prinzipien des Zeichens und des Mathematischen basieren. In der ihr eigenen Konsequenz mündete dieses Interesse im Jahre 2012 schließlich in ein entsprechendes künstlerisches Projekt zum Thema „Ikonen“, die auf den Prinzipien des Zeichens und des Mathematischen basieren.

Falko Bornschein

Aus: Sei mir gegrüßt Melancholie – Christina Simon zum 50.Geburtstag, Das druckgrafische Werk von 1985-2013, hrsg. BRAND-SANIERUNG e.V. , Verlag Ille&Riemer Weißenfels-Leipzig 2014, S. 24-93.

Christina Simon beeindruckt mit einer unbändigen Fabulierfreude. Die Themen bezieht sie aus der Kunstgeschichte und aus ihrem christlich geprägten Weltverhältnis. Wir begegnen bekannten Figuren der Bibel wie Hiob und Jona, den Aposteln Petrus und Paulus, aber auch der ambivalenten Maria von Magdala. Wir begegnen großen Frauen der Geschichte, deren christusförmiges, von tiefer Spiritualität geprägtes Leben uns überliefert wurde: Elisabeth von Thüringen und Mechthild von Magdeburg. „Diese großen Gestalten der Schrift zu entheben, sie für einen Moment als Tröster zu begreifen und sich mit ihnen identifizieren zu dürfen, um die eigenen Gefühle und Befindlichkeiten wieder zurück in das Abbild derer bannen zu können, befreit, erhöht und bestärkt mich zugleich“, beschreibt die Künstlerin ihre Motivation. Die enge Verbundenheit mit der literarischen Überlieferung führt zu einer erzählerischen Grundhaltung, zur Ausarbeitung bestimmter Themen in grafischen Zyklen. Doch wird die jeweilige literarische Quelle nicht illustriert, auch nicht in Bilderfolgen nacherzählt. Vielmehr ist Christina Simon an der persönlichen Annäherung und Auseinandersetzung mit dem Überlieferten gelegen, an einem bildnerisch forcierten Verständnis der Geschichte(n) und der darin handelnden Personen, an einem menschlichen wie christlichen Selbst-Verständnis, das die Künstlerin aus der bildhaften Aneignung und Ausarbeitung der archetypischen Geschichten bezieht. Es geht um nichts Geringeres als das Wiederfinden und Neuinterpretieren der existenziellen Dimensionen unseres Daseins – ihres Daseins, denn ihre Kunst speist sich ganz wesentlich aus persönlichen Erfahrungen. (Einer Dimension, die im medialen Rauschen unseres Alltags ins Unkenntliche, Formlose abzugleiten droht.) Die intensive Farbigkeit dieser Linolschnitte, ihre schwungvollen Lineaturen und überbordenden Ornamente, das transluzide Leuchten der Farbflächen und die dicht ineinander verwobenen Bildelemente bezeugen eine gestalterische Vitalität und Kontinuität der Form, welche die existenzielle Schwere der thematischen Anlagen dieser Blätter im Prozess der Neuformulierung dialektisch aufhebt und übersteigt.

 Kai Uwe Schierz

Aus: Facetten des Linolschnitts, in: Jahresheft 2012/13, hrsg. BRAND-SANIERUNG e.V. , Verlag Ille&  Riemer Weißenfels-Leipzig, 2014, S.153-157

Zur Vernissage der Ausstellung mit drei Zyklen von Christina Simon in der Moritzkirche zu Naumburg

 

„Lieben, Leiden, Rebellieren“ hat Christina Simon ihre Schau überschrieben, in der sie drei Zyklen mit Farblinolschnitten zusammengefasst hat, die vor allem, aber nicht ausschließlich Geschichten des Alten Testaments aufgreifen. Themen, die die Weißenfelser Künstlerin seit Jahren bewegen. Biblische Überlieferung, in der, wie in den antiken Mythen auch, menschliche Seins- und Verhaltensweisen exemplarisch angelegt sind, die der um eine angemessene Mythen-Definition ringende Schriftsteller Franz Fühmann (1922-1984) beim Nachdenken über das lyrische Werk des österreichischen Dichters Georg Trakl als „Modelle von Menschheitserfahrungen“ bestimmt hat.

Christina Simon hat dafür eine Form gefunden, die die Bildinhalte gleichsam von innen her leuchten lässt: den Farblinolschnitt mit Weißlinien, den die Grafikerin so meisterhaft beherrscht, dass man, einmal mit einer Arbeit konfrontiert, ein Simon‘sches Werk künftighin immer wieder erkennt.

Charakteristisch für ihre Grafiken sind harmonisch miteinander korrespondierende Farbflächen, in die sich die weißen Linien einpassen als ein Trennendes, aber auch der belebten und unbelebten Natur Kontur Gebendes. Diese Linienführung sogt für eine hohe Bilddynamik und -dramatik auf den Blättern, gleich ob uns – um die thematische Spannbreite nur anzudeuten – Apoll oder die Mutter Gottes, Medea oder ein ebenso schlicht wie kunstvoll verästelter Baum wie bei dem in verschiedenen Zuständen entwickelten Motiv „Franziskus predigt den Vögeln“ vor Augen geführt wird. Eine progammatische Breite, die vom griechisch-antiken Mythos bis zur Ikonografie der Ostkirche und zur Heiligen-Vita reicht. Erzählungen, die ein schier unerschöpfliches Reservoir an Bildthemen bieten und daher für Christina Simon immer wieder aufs Neue den Ausgangspunkt für zum Teil umfangreiche Grafikzyklen bilden, für die der Erfurter Kunsthistoriker Falko Bornschein, einer der Interpreten ihrer Arbeiten, mit einigem Recht geltend macht: „Ihr Sinn und ihr ästhetischer Gehalt erschließt sich nicht vordergründig, sondern ist an intensive Befragung gebunden.“ Für Christina Simon ist das In-Szene-Setzen von biblischen Themen übrigens kein rein ästhetischer Prozess, was eigentlich der Erklärung genug wäre, sondern stets auch eine Auseinandersetzung mit ihrem Glauben.

Im „Hohelied“ wird geliebt, bei Jona, wie gehört, gegen Gott rebelliert. Im dritten Teil der Schau sind fünf Arbeiten zu finden, die von Christina Simon unter der Bezeichnung „Klagen und Klage“ zusammengefasst werden. Darunter ist auch eine Grafik zu jener alttestamentarischen Gestalt, über die nachzudenken man auch dann nicht müde wird, wenn man keine Botschaft katastrophalen Inhalts erwartet. Denn obwohl diese Figur aufgrund des ihr widerfahrenen Leids Grund zur buchstäblich himmelschreienden Klage hätte, ist aus ihrem Mund dergleichen nicht zu vernehmen: Hiob, der Dulder im Glauben, der fromme Mann, der auf Betreiben Satans und mit Gottes Zustimmung ins Unglück gestürzt wird. Der Herr lässt den Verlust allen Besitzes Hiobs zu, gar den Tod seiner zehn Kinder und die Schädigung seiner Gesundheit, auf dass, wie Satan wettete, der so Gestrafte Gott verfluchen werde. Der aber bleibt bei seiner gottesfürchtigen Einstellung: „Nehmen wir das Gute an von Gott, sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen?“, fragt Hiob in Kapitel 2, Vers 10.

Eine Frage, die die gläubige, mit dem Glauben ringende Menschheit auch zwei Jahrtausende später noch immer beschäftigt. Denn die Geschichte von Hiob legt den Finger auf den wunden Punkt, der da lautet, wie es sein kann, dass Gott, der doch ein gerechter ist, dulden kann, dass dem Menschen Böses widerfährt. Mehr noch: das auch ein gerechter Mensch leiden muss. Hiob ist, wenn man so will, die personifizierte Theodizee, die nach der Rechtfertigung eines liebenden Gottes angesichts des Leidens fragt. Ein religionsphilosophisches Problem, das unter anderem auch den redlichen Gotthold Ephraim Lessing umgetrieben hat. Dass uns beim Anblick des „Hiob“-Blattes von Christina Simon derlei Gedanken durch den Kopf gehen, zeigt nachdrücklich, dass es der Künstlerin gelingt, mit ihren Arbeiten zum Nachdenken anzuregen – über Hiobs und im besten Fall auch über das eigene Schicksal.

Kai Agthe

 

Aus: Lieben-Leiden-Rebellieren, Farblinolschnitte von Christina Simon aus den Zyklen zum Hohelied Salomonis, zu Klagen und Klage und zum Propheten Jona, Ausstellungskatalog Moritzkirche Naumburg, hrsg. BRAND-SANIERUNG e.V. /Förderverein Moritzkirche Naumburg e.V., Verlag Ille und Riemer Weißenfels-Leipzig, 2017, S. 9-14.

In den eigenen Werken von Christina Simon hat sich der schöpferische Widerstand gegen eine programmatische „sozialistische Kunst“ in einer Art und Weise artikuliert, die nicht zuletzt mit ihrem christlich geprägten Weltbild zusammenhängt. „Das Christentum ist die Möglichkeit einer Annäherung an die Wirklichkeit durch Erschaffen einer eigenen, um durchzuhalten – für mich auch im Kommunismus.“In der Konsequenz ist es nur verständlich, dass Christina Simon das künstlerische Heraustreten aus dem politisch veranstalteten Gemeinschaftsleben der DDR über die Bildsprache des christlichen Mythos vollzogen hat.  Mit der Annäherung an die Zeiten und Räume überdauernden Mythenwahrheiten gelang es, die gelebte Wirklichkeit erst einmal in Klammern zu setzen.

Zugleich aber barg und birgt das mythische Geschehen in seiner Darstellung dessen, „was das Gute am menschlichen Dasein ausmacht“, eine Problematik, die das Moralische und Politische in ihrem Grundsätzlichen impliziert und als „Modell von Menschheitserfahrung“ weitergibt. Die gläubige Christin und Künstlerin Christina Simon baut mit dieser Hinwendung auf die Kraft des Dogmas, das hilft, um im aufrechten [Gang] durch ein totalitäres System“ zu gehen. Sie tut es erst recht auch nach der Wende, um den sich im Heute verlierenden Menschen überhaupt bei seiner Sinnsuche im Leben wieder behutsam an die conditio humana zu erinnern; dem Betrachter über deren Reflexion in der Kunst und in Andeutung der Heilsgeschichte eine Möglichkeit der Lebens-Erfüllung und der Selbstfindung anzubieten.

Die magische Kraft des Mythos tritt der Künstlerin auch im antiken Gewande entgegen. Eine Reise nach Griechenland in der Nachwendezeit brachte diesbezüglich die Offenbarung. Im direkten Zusammentreffen mit den Überresten der hellenistischen Kunst, erlebte die Weißenfelserin in einem Gefühl des Zurück zu den gemeinsamen abendländischen Wurzeln „einen Zustand des Magischen, Allumfassenden“, wie er nur über Mythos und Kunst aufzuscheinen vermag. Die Magie des Mythos für die eigene Kunst zu retten, das wurde zu einem zentralen Anliegen von Christina Simon. Es ist mittlerweile zur Konstante in ihrem Schaffen geworden.

Bei Christina Simons Kunst jedoch vollzieht sich der Rückgriff und die Aneignung von vorgefundenen künstlerischen Materials für ihre Kompositionen aus einem ganz anderen, schon erläuterten Antrieb und mit einem anderen Ziel. Dementsprechend geht es ihr weniger um die Hinterfragung vorhandener ästhetischer Lösungen und deren Brechung in der eigenen Komposition als um ein Bekenntnis zur Tradition christlich-abendländischer Kunst, der sie sich als zutiefst christliche Künstlerin zugehörig fühlt. Christliche Kunst ist für sie in erster Linie Lebenshaltung, die über die Verinnerlichung der großen mythischen Narrative und Bildgestaltung Nahrung erhält und Stärkung empfängt.

…..

Christina Simons Werke beziehen ihre stilistische, unverwechselbare Eigenart unter anderem aus dem Zusammenfließen von programmatisch deklarierter Motiv-„Nachahmung“ im Sinne erwähnter „Abbilder“ und der Technik des Linolschnitts, einer relativ jungen Technik, die schon deswegen jenen Kunsttraditionen, aus denen Christina  Simon ihre Inspiration bezieht, fremd ist. Andererseits ergibt sich wiederum durch die Nähe des Linolschnitts zum Holzschnitt eine Möglichkeit, die Holzschnitt-Tradition des Reformationszeitalters ins Spolien-Spiel mit einzufangen – hierfür sind der Mechthild- wie der Elisabeth von Thüringen-Zyklus beredte Beispiele. Christina Simon erwähnt in diesem Zusammenhang HAP Grieshaber und dessen Reutlinger Passionszyklus.

Auch ist die Leuchtkraft der Farben, wie sie einst Grieshaber für den Holzschnitt neu entdeckte, die ein Wesentliches von Christina Simons Kunst ausmacht und einen aktuell-affektiven Stimmungsgrund trägt, den man getrost mit Magischem und Mystischem zu assoziieren vermag.

Die Künstlerin arbeitet überwiegend in der Technik der „verlorenen Platte“, auch „verlorener“ Druckstock genannt. Hierbei zeigt sich die Linie überwiegend im Weißdruck. Entsprechend dem technischen Vorgehen, die Farbareale je nachdem beabsichtigten Helligkeitsgrad konsekutive durch schablonenhafte Ausschnitte im Bild zu fixieren, zeigen sich die Kompositionen als narrative Bildwelten, getragen von einem Spiel mit versetzten Figurenumrissen und Ebenen, mit Assemblagen und Abtreppungen.

Vor allem überzeugt die Künstlerin mit einem virtuosen Weißlinienspiel. Die Linie ist Umriss und Binnenzeichnung, sie rahmt und verbindet zugleich, sie modelliert und ist dabei mal abstrahierende Hintergrundszenerie, mal Vordergrund. Sie vermittelt eine optimistische, energiegeladene Stimmung, die letztlich Christina Simons in die Glaubenszuversicht eingebettete Zeit- und Welt-Erleben dem Besucher nahe zu bringen vermag.

 

Irmgard Sedler

 

Aus: SIMON & BARNICKEL. Katalog zur Ausstellung, Museen der Stadt Kornwestheim, Kornwestheim 2013,S.1-4.

In der Kühnheit ihrer Jugend hat Christina Simon einst Thesen für eine neue Kunst formuliert. Die erste These lautet: „Kunst, die nicht zur höheren Ehre Gottes dient, ist wertlos.“ Und die neunte sei hinzugesellt: „Meine Arbeit ist ein Gebet.“ Sie nennt das die „Anbindung an das Absolute“, die gefordert ist als ein immer währendes Gespräch und ein Leben als Begegnung mit der Theologie, der Dichtung, der bildenden Kunst – und dem Menschen. Daher kommt ihr die Kraft zur BRAND-SANIERUNG. Die Zeiten können wir nicht heilen, aber vielleicht die Seelen. Zerstörte Häuser sind ein Abbild von verlorenen Seelen. Im Psalm 23 heißt es (Vers 3): „Er erquickt meine Seele“. So hat es Martin Luther wunderschön übersetzt. Man wird gesund, wenn man diesen Satz hört oder liest. Martin Buber aber hat ihn anders verdeutscht: „Die Seele mir bringt er zurück.“ Nur wer um den Verlust der Seele weiß, kann sie denken: Martin Buber hat im zwanzigsten Jahrhundert solch ein Katastrophe erleben müssen: die Menschen haben ihre Seele verloren. Dem muß der Mensch wehren, so gut er es vermag – damit Gott handelt.

In der Begegnung der Menschen untereinander, mit der Religion, mit Kunst, Literatur und Wissenschaft, wird die BRAND-SANIERUNG zu einer „Arche in der Zeit“, in die hinein Christina Simons Werk wirkt. Immer auf der Suche nach dem Leben: Was Gilgamesch erst am Ende seiner Lebenssuche erkennt, weiß Christina Simon schon längst: Der Mensch ist an seinen Platz gestellt, nicht in die Existenz geworfen, sondern von Gott gewollt, den Brunnen da zu graben wo, man ist. Und Brunnengeschichten, zumal in der Bibel!, sind allzumal Geschichten vom geglückten Leben.

Gerhard Begrich

 

Aus: Sei mir gegrüßt Melancholie – Christina Simon zum 50.Geburtstag, Das druckgrafische Werk von 1985-2013, hrsg. BRAND-SANIERUNG e.V. , Verlag Ille&Riemer Weißenfels-Leipzig 2014, S. 14-16.

Über die Ausstellung mit Farblinolschnitten zu griechischen Mythen von Christina Simon

 

 „Palimpsest“ hat Christina Simon ihre Ausstellung „Zur Mythologie der griechischen

Antike“ betitelt. Palimpseste sind, unabhängig von des Begriffes historischer

Etymologie, in unseren ostdeutschen Städten, in denen noch zahllose

Gebäude auf ihre Rekonstruktion oder ihren Abriss warten, allgegenwärtig.

Auf verwitterten Fassaden, deren Grautöne sich nur in Nuancen unterscheiden,

sind Wörter zu lesen wie etwa „Dampfbäckerei“, „Drogen und Farben“

oder „VEB Schuhfabrik Banner des Friedens“. Zugegeben, das Letztere ist meine

Zutat und eine Erinnerung an die wichtige Industriestadt, die Weißenfels

einmal war.

„Ich besann mich auf ein Flüßchen hinter der Stadt, ein seltsam schimmerndes,

an manchen Tagen fast milchfarbenes Gewässer, das ich kilometerweit

verfolgt habe, einen Herbst lang oder noch länger, vielleicht nur, um einmal

hinauszukommen aus einem Territorium, das, wenn ich endgültig sagen soll,

von den Grenzen meiner Müdigkeit eingeschlossen war.“ So lautet der erste

Satz in Wolfgang Hilbigs vor genau zwanzig Jahren erschienener Erzählung

„Alte Abdeckerei“. In dieser hochverdichteten Geschichte wird das Erkunden

einer von der Industrie ausgezehrten Landschaft im Osten Deutschlands – es

könnte durchaus Weißenfels sein – gleichsam als mythische Expedition arrangiert,

heißt es am Ende doch: „Und endlich an einigen untergegangenen

Ruinen vorüber, an Germania II vorüber, wo in der Flut die Sternbilder spielen,

wo die Minotauren weiden.“ Ob wir glauben, dass Minotauren in

Meuselwitz, wo Wolfgang Hilbig geboren wurde, oder in Weißenfels, wo Friedrich

von Hardenberg alias Novalis starb, weiden, ist allein eine Frage unserer Einstellung.

Man könnte trefflich darüber sinnieren, was die zeitlose Aktualität der abendländischen

Mythen ausmacht. Um dieses Nachdenken abzukürzen, sei Jan

Robert Weber zitiert, der jüngst in der Studie „Ästhetik der Entschleunigung“,

einem Buch über die Poetik von Ernst Jüngers Reisetagebüchern, sehr zu Recht

von der „bewahrende(n) Kraft des Mythos“ sprach. Die bewahrende Kraft des

Mythos, das ist, mit dem Schriftsteller Franz Fühmann gesprochen, das Vermögen,

„Modelle von Menschheitserfahrung“ zu bündeln. Mehr noch: Der

Mythos, so Franz Fühmann, „macht es möglich, die individuelle Erfahrung,

mit der man ja wiederum allein wäre, an Modellen von Menschheitserfahrung

zu messen“. Überlegungen, die sich in Fühmanns Essay „Das mythische Element

in der Literatur“ von 1974 finden. In den Jahren, in denen er auch an

diesem Essay schrieb, hat Franz Fühmann auf Basis von Johann Heinrich Voss‘

Hexameter-Übersetzung Homers „Ilias“ und „Odyssee“ ebenso wie die Geschichte

des Prometheus im Buch „Die Titanenschlacht“ in eine auch und vor allem

an Jugendliche gerichtete Prosa übertragen.

„Palimpsest“ also hat Christina Simon ihre Ausstellung mit vierzig Arbeiten zur

griechischen Mythologie überschrieben. Das Verb „überschreiben“ trifft die ursprüngliche

Bedeutung des Wortes und ihr künstlerisches Anliegen sehr genau.

Es leitet sich her von der in der Antike und im Mittelalter geübten Praxis des

Abschabens von Manuskriptseiten oder -rollen, um diese neu beschreiben zu

können. Pergament und Papier waren teuer und wurden, wenn nötig, abgeschabt,

also sanft recycelt, und aufs Neue benutzt. Palimpsest, das meint heute

aber auch Oberflächen, die – wie oben am Beispiel von Inschriften an Hausfassaden

angedeutet – durch menschliche und/oder natürliche Einflüsse überprägt

und (deshalb) fast unsichtbar wurden. Palimpseste kann man in Städten

suchen, überraschend aber ist es, sie einfach zu finden.

Die zwischen 2009 und 2011 entstandenen Linolschnitte Christina Simons

unter dem Titel „Palimpsest“ zu fassen, ist naheliegend, weil die Arbeiten aus

vielen Teilen der hellenischen Kunstgeschichte komponiert, also neu beschrieben,

sind. Eingegangen in ihre Grafiken sind Arbeiten der bildenden Kunst, die

sie in Griechenland und in Museen fand und fotografisch dokumentierte. Altgriechische

Statuen und Statuetten, Reliefs und Ornamente, Säulen und Kapitelle

hat sie als Vorlage genommen und in ihren Linolschnitten zusammengeführt.

Ein wichtiges Stichwort sowohl für die Architekturgeschichte als auch für

die von Christina Simon gewählte Bildästhetik lautet Spolien. Das sind Bauteile

und andere Überreste wie Teile von Reliefs oder Skulpturen, Friese und Architravsteine,

Säulen- oder Kapitellreste, die aus Bauten älterer Kulturen stammen und

in neuen Bauwerken wiederverwendet werden. Auch dies, wenn man die zitierte

Definition zu Grunde legt, eine Art von Palimpsest-Verfahren.

Warum es für Künstler im Allgemeinen und für Christina Simon im Speziellen

immer wieder reizvoll ist, sich an mythischen Überlieferungen produktiv zu reiben,

hat der Philosoph Martin Heidegger in der Schrift „Technik und Kehre“ für

die Kunst der griechischen Antike plausibel erklärt. Sie, die Kunst des griechischen

Altertums, brachte, so Heidegger, „die Zwiesprache des göttlichen und

menschlichen Geschicks zum Leuchten“. Eine Zwiesprache, die übrigens auch

dann in den Linolschnitten von Christina Simon leuchtet, wenn diese nur einfarbig

sind.

 

Wenn Christina Simon von der „weißen Schnittlinie“ spricht, die ihr Medium ist,

so wird man, besser: so werde ich, unverzüglich an den Architekten und Designer

Henry van de Velde erinnert, dessen Medium für seine puristischen Jugendstil-

Entwürfe die „Kraftlinie“ war, was an der Weimarer Kunsthochschule

(dem heutigen Hauptgebäude der Bauhaus-Universität) ebenso ablesbar ist

wie an der Raumgestaltung im Nietzsche-Archiv oder noch an einer Hummergabel,

die Henry van de Velde als Teil einer opulenten Bestecksammlung kreierte.

Von der Veldeschen Kraft- zur Simonschen Schnittlinie ist es ein ästhetisch kurzer Weg.

Das Credo der Künstlerin – zu finden in dem reproduktionstechnisch vortrefflich

gelungenen Faltblatt zur „Palimpsest“-Ausstellung – lautet: „Mein Medium

ist die weiße Schnittlinie. Sie ist absolut, kraftvoll und entschieden! Das Wesen

des antiken Vorwurfs wird durch ein abstraktes Linienspiel anverwandelt

und in unsere Welt übertragen. Die Schichtungen und Kombinationen verstehen

sich als Zeichen historischer Projektionen und Palimpseste.“

 

Christina Simons Farblinolschnitte betrachtend, wird man an einen Satz Ernst

Jüngers erinnert, der im Tagebuch „Siebzig verweht“ notierte: „Daher wohnt

jedem Kunstwerk nicht nur ,ästhetischer Zauber‘ inne, sondern unmittelbare

magische Kraft.“ Das, meine Damen und Herren, was auf Sie wirkt, was Sie im

besten Falle anzieht, wenn Sie Christina Simons Blätter betrachten, das ist nicht

nur ästhetischer Zauber, sondern die Kraft des Magischen. Kurzum: Ihre in

Linol geschnittenen „Palimpseste“ sind beeindruckende Kunstwerke.

 

Kai Agthe