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MECHTHILD VON MAGDEBURG

GOTT grüße Euch, Frau Minne

 

Linolschnitte von Christina Simon

 

Nach der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Leben der hl. Elisabeth von Thüringen im Jahre 2007 wendet sich Christina Simon mit der vorliegenden Folge von Linolschnitten einer zweiten bedeutenden religiösen Frau der Stauferzeit zu – der Mystikerin Mechthild von Magdeburg. Anlass dazu bot das 800-jährige Geburtsjubiläum der berühmten Begine und späteren Nonne aus dem Zisterzienserinnenkloster Helfta bei Eisleben. Wie Elisabeth wurde auch Mechthild wesentlich von der Armutsbewegung des frühen 13. Jahrhunderts getragen. Gegenüber der Thüringer Landgräfin zeichnete sie sich jedoch weniger durch eine Christusnachfolge in Form praktizierter Nächstenliebe aus. Mechthilds Frömmigkeit war vielmehr nach Innen gekehrt und durch eine Gottessuche im Grund der menschlichen Seele geprägt. Ihre mystischen Erfahrungen schrieb die Magdeburgerin in sieben Büchern „Vom fließenden Licht der Gottheit“ nieder. Sie bilden die Grundlage für die Beschäftigung Christina Simons mit der mitteldeutschen Visionärin.

In einer Reihe von Linolschnitten unterschiedlichen Formats versucht sich die Weißenfelser Künstlerin dieser komplexen geistigen Welt zu nähern. Dabei gelingt es ihr, etwas von Mechthilds Ausstrahlung einzufangen, ihr sensibles Transzendieren aufscheinen zu lassen und dadurch das spezielle Verhältnis der Mystikerin zu Gott und der Welt erfahrbar zu machen. So findet die seherische Kraft und bildhaft poetische Sprache Mechthilds eine Entsprechung in einer ausgesprochen differenzierten Farbpalette, in nuancenreichen, sorgsam aufeinander abgestimmten farblichen Zwischentönen, in der eindringlichen Form der Bildsprache, in metaphorischen Allegorien, in fließenden wellenförmigen Kompositionen oder im Vergeistigen bzw. Materialisieren von Erlebtem durch wechselweises Auflösen und Verfestigen der Bildstruktur. Die Einbeziehung von Textfragmenten in die grafischen Werke ist einerseits als künstlerisches Stilmittel zu werten, zum anderen aber auch als ein Hinweis auf die fast ausschließlich durch ihr literarisches Werk überlieferten Lebensspuren der Mystikerin zu verstehen. Der beim Lesen unwillkürlich rezipierte Inhalt der Texte eröffnet nicht nur ein Fenster in die geistige Welt der Autorin, sondern bildet sowohl sinnhaft als auch sinnlich eine Metaebene, die mit dem bildkünsterischen Zeichensystem korrespondiert.

Wie auch bei früheren Projekten der Künstlerin sind die Linolschnitte wohl kalkuliert, d. h. sowohl  handwerklich als auch künstlerisch ausformuliert. Nur wenig wurde dem Zufall überlassen. Das meiste ist Resultat eines langwierigen Schaffensprozesses und einer kritischen Auslese. Dennoch fehlt es den Arbeiten keineswegs an Frische und Unmittelbarkeit. Immer wieder finden sich Blickfänge, die den Einstieg in die Bildwelt erleichtern, führen vehemente Bewegungen rastlos durchs Bild und ziehen ästhetisch reizvolle Details die Blicke des Betrachters auf sich. Beruhigende Passagen, die zum verweilenden Schauen einladen, sind eher selten. Stattdessen wird durch konträre Positionen jedwede Idylle hinterfragt und dadurch der Dialog offen gehalten. Das künstlerische Prinzip eines in relativ strengen äußeren Formen wiedergegebenen lyrischen Inhalts ist nicht zuletzt auch den oft in metrischem Versmaß verfassten Texten Mechthilds eigen. In gleichem Maße, wie der Linolschnitt an Linien, Flächen, Farbe, Format und Zweidimensionalität gebunden bleibt, vermag sich auch Mechthild letztendlich nicht ihrer erdgebundenen Existenz zu entziehen.

Christina Simon integriert vorzugsweise figürliche Zitate aus der Kunstgeschichte in ihre Linolschnitte, um sie entsprechend ihrem künstlerischen Anliegen zu interpretieren. Diese „Spolien“ vermitteln zum einen Historizität, Tradition und Kontinuität. Sie sind außerdem in unterschiedlicher Art und Weise wichtige bildkünstlerische Ausdrucksträger. Im vorliegenden Zyklus sind sie jedoch auch insofern hilfreich, als sie stellvertretend für Mechthild stehen. Dabei verbindet sich die Rollenübertragung unwillkürlich mit den sonst von den entsprechenden Figuren verkörperten Sinnschichten. Dies betrifft den Marienstatus in „Mechthild erhält den Gruß“ ebenso wie ihre Anverwandlung als hl. Radegunde, als erythräische Sibylle oder als Hildegard von Bingen bei der „Entgegennahme des Schreibbefehls“. Ähnliches gilt für die zahlreichen ausschließlich weiblichen Personifizierungen, etwa der Frau Minne, der Seele, der Pein oder der Erkenntnis.

Die zum Thema entstandenen ausdrucksstarken Kunstwerke verdeutlichen, dass die Künstlerin und Religionspädagogin offenbar ein Thema aufgegriffen hat, das ihr aus dem Herzen spricht. In den Linolschnitten verdichten sich emotionales Ergriffensein vom Werk und der Person Mechthilds, eigene philosphisch-theologische Einsichten und Fragen, gewonnene Seherfahrungen, kunsthistorische Inspirationen sowie künstlerische Experimentierfreudigkeit mit bewährten Gestaltungsmodi. Dabei verleiht der Weißlinienschnitt den Darstellungen Leichtigkeit, Eleganz und Modernität. Mitunter werden die Figuren frei gestellt, was sie in gewisser Weise aus der Umgebung herauslöst und ihnen eine Art Aura verleiht. Sie scheinen dadurch zu schweben, sind aber gleichzeitig in ihrer Körperlichkeit betont. In diesem Spannungsfeld von Innehalten und Agieren, von Ruhe und Bewegung, von weichen fließenden Übergängen und harten Einschnitten, von Diesseitigkeit und Spiritualität sind die Darstellungen angesiedelt. Als grenzüberschreitend ist auch der Umgang Christina Simons mit dem Medium Farbe zu bezeichnen. Durch eine Vielzahl an Farbnuancen, erzeugt in mehrfachen Druckvorgängen, gewinnt sie dem Hochdruckverfahren des Linolschnitts geradezu malerisch anmutende Züge ab. Darüber hinaus konstituieren sich wesentliche Aussagen durch die Beziehungen der einzelnen Figuren zueinander, durch das Verhältnis von Figur und Blatt, von Figur und Umgebung, von Fläche und Raum oder von Bildelementen und Format.

Bewusst werden mehrere farbig variierte Blätter zum gleichen Thema nebeneinander gestellt. Sie visualisieren das Tasten, die Suche und mitunter auch das angestrengte Ringen um eine adäquate, dem anspruchsvollen Thema angemessene Bildfindung. Gleichzeitig akzentuieren sie jeweils unterschiedliche Seiten des komplexen Sinngehaltes.

Das von höfischer Minneethik und der Brautmystik des alttestamentlichen Hohen Liedes getragene Christusverständnis der adligen Magdeburgerin impliziert vorrangig feminine Aspekte, mit denen sich Christina Simon facettenreich auseinandersetzt. In der Gesamtschau der Linolschnitte erschließt sich dem aufgeschlossenen Rezipienten ein reiches Refugium geistiger Prozesse. Dabei verzichtet die Künstlerin weitestgehend auf anekdotisch-erzählerische Bildelemente. Stattdessen wird der Betrachter zu einem metaphorischen Denken angehalten, sind eine sensible Sensorik für Körpersprache, Mimik und Gestik sowie ein geradezu musikalisches Verständnis für Farbakkorde und Bildrhythmik gefragt.

Den Auftakt der Bilderfolge bildet der Gruß des Erzengels Gabriel an Maria (Lukas 1, 28). Wie der Himmelsbote seine göttliche Botschaft an die auserkorene Jungfrau verkündet, grüßt Gott hier Frau Minne. Gleichzeitig wird der Betrachter quasi in Empfang genommen und in die bildnerische Auseinandersetzung mit dem Thema eingeführt.

Dem Entree schließt sich eine Folge von Zwiegesprächen an – inspiriert durch entsprechende Dialoge aus Mechthilds Werk „Vom fließenden Licht der Gottheit“. In inniger Verbundenheit begrüßen sich die Gottesmutter Maria und Elisabeth, die Mutter Johannes‘ des Täufers. Sie sind von wehenden Banderolen mit Versen aus der Schrift Mechthilds umschlungen, die von der Sehnsucht nach dem Einswerden der Seele mit Gott zeugen. Geradezu konträr dazu gestaltet sich die Begegnung zwischen Frau Minne und der verhärteten Seele. Abweisend, starr und unnahbar reagiert Letztere auf die hoffnungsvolle Zuwendung der werbenden Liebe. Die wie eine Säulenheilige erhöhte romanische Gewändefigur aus dem Königsportal von Chartre wirkt introvertiert und verschlossen, während die nach Vorbildern Grünewalds gestaltete Minne mit bewegter Silhouette, locker drapierter, hier wallender, da plisseehafter Gewandung und wehendem Haar sich ihr erwartungsfroh zu nähern versucht. Dabei löst sie sich aus einem Hintergrund, der wie ein zerschlissener Vorhang anmutet. Seine goldgelbe und silberweiße Farbigkeit verleiht den eingebundenen Worten nicht nur eine gewisse Flüchtigkeit, sondern vermittelt darüber hinaus den Eindruck von Edlem und Bedeutsamem. Der Gegensatz zwischen den beiden Figuren symbolisiert zudem einen Umbruch im Gottesbild am Übergang von der Romanik zur Gotik, der sich forciert gerade zu Zeiten Mechthilds vollzog.

Unter abermals veränderten Vorzeichen steht das Gespräch zwischen Frau Erkenntnis und Frau Seele. Die beiden an Reimser Vorbildern orientierten Figuren scheinen einen offenen Disput zu führen. Hier sind die entsprechenden Verse vom fließenden Licht der Gottheit in nebelartig schwallende oder in rauchsäulenartig sich auflösende Gebilde eingefügt. Elisabeth, die ältere, etwas kühler kolorierte Figur der Heimsuchungsgruppe, steht für das Geistige – die jüngere Maria für die liebend empfangende Seele. Die beiden Frauen sind einander zugewandt und durch gegenseitige Schattenbildung miteinander verbunden. Sie schreiten auf den Betrachter zu und binden ihn dadurch in ihr Gespräch ein.

Im Dialog zwischen Gott und Frau Pein vor des Reiches Pforte stellt sich ein Engel von der Kathedrale zu Arras der in Rückenansicht wiedergegebenen Bamberger Synagoge in den Weg. Schon die gewählte Figurenkonstellation verdeutlicht die Schwierigkeit des Unterfangens. Lichte Pastellfarben und stilisierte Wolkenformationen beschreiben himmlische Gefilde, deren Mauern aus formulierten Gedanken bestehen. Die mit Heiligendarstellungen verzierte Paradiespforte bildet eine zu überwindende Barriere und verbildlicht zugleich die in Aussicht stehende Communio Sanctorum. Dahinter verheißt ein goldener Schein Glückseeligkeit und göttliche Nähe.

Ströme göttlicher Eingebung ergießen sich über Mechthild bei der Entgegennahme des Schreibbefehls zu ihrem literarischen Werk. Sie durchfließen den Körper der Autorin, die in einem baldachinartigen Gehäuse sitzt und die mystischen Erkenntnisse in Wort zu fassen versucht. In einem weiteren Linolschnitt werden sie girlandenartig und stofflich greifbar von Engeln gereicht. Während die Himmelsboten das Transzendente der Visionen verdeutlichen, stehen die vier Ecken der Blätter, die betonte Isolation der Figur oder die mitunter hervorgehobene Rahmung für die Begrenztheit des menschlichen Vermögens.

Eine ähnlich gelagerte Fließmetaphorik prägt auch die Arbeiten mit dem Sinnbild des ausfließenden Brunnens. Neben dem überquellenden Schwall der Bildbewegung bestimmt hier eine mitunter sogar soghaft wirkende Tiefenräumlichkeit den Bildaufbau. Zuweilen vermitteln Engel über den Erdenkreis hinaus in die Unendlichkeit des Seins.

Wird die überwältigende göttliche Inspiration im Brunnenmotiv durch die Kraft kühlen Wassers symbolisiert, so sind es in weiteren Linolschnitten feurig lodernde Flammen, die den Menschen zu verzehren drohen. Im fließenden Licht am Himmelstor erscheinen Adam und Eva wie auch Mechthild wiederum als auf sich selbst zurückgeworfene Einzelfiguren. Obwohl noch erdverhaftet sind sie in göttliches Wirken eingebunden, werden sie durch den Allmächtigen zutiefst berührt. Letzteres wird durch helle changierende Töne, durch Formauflösung oder durch eine Gestaltung von bewegten Lichträumen versinnbildlicht. Neben diesen die Herrlichkeit Gottes reflektierenden Charakteristika verweisen mathematisch-geometrische Gestaltungsprinzipien wie Staffelung, Reihung, Schichtung, Symmetrie, Spiegelung oder Negation eher auf das ordnende Wirken des Schöpfers. Im Gesamteindruck dieser Blätter obsiegt zumeist der freundlich-österliche Aspekt, obwalten wohlige barocke Formen. Der in einzelnen Linolschnitten auf ihrer Schrift vom fließenden Licht fußenden Mechthild liegt die Marienfigur einer Kreuzigungsgruppe zugrunde, die einer Handschrift der Pariser Bibliothéque National entnommen wurde. Sie verweist auf den hier nicht sichtbaren Christus und damit auf den dreieinigen Gott.

Zahlreich ließen sich derartig hintergründig eingeflochtene Motive und Sinnbezüge aufführen. So bilden z. B. die nach Vorbild von Chartres wiedergegebenen Propheten Jeremia, Mose, Daniel, David und Salomo durch ihre seherische Begabung eine gewisse Analogie zur Mystikerin Mechthild. In goldenem Abglanz himmlischer Herrlichkeit illuminieren sie das Buch „Vom fließenden Licht der Gottheit“. Gleichzeitig verkörpern die Propheten neben Adam auch die männliche Ratio gegenüber dem eher emotional motivierten femininen Gedankengut.

Abschließend sei noch auf den heiter-beschwingten Tanz eines Paares hingewiesen, der sich in raumlos zeitenthobenen überirdischen Sphären vollzieht und in wirbelnde schleierartige Formen eingebunden ist. Er bezieht sich auf den Tanz der Seele mit Christus: „Ich tanze, Herr, wenn du mich führst! Soll ich sehr springen, mußt du selber vorsingen. Dann springe ich in die Minne, von der Minne in die Erkenntnis, von der Erkenntnis in den Genuß, vom Genuß über alle menschlichen Sinne. Dort will ich verbleiben und doch höher kreisen“.

Falko Bornschein

GOTT GRÜSSE EUCH, FRAU MINNE

LINOLSCHNITTE

CHRISTINA SIMON

Kathedrale St.-Sebastian Magdeburg

04.07. – 30.08.2008

St.-Moritz-Kirche Halle

09.09.- 10.10.2008

Kloster St.-Marien zu Helfta

April 2009

Christina Simon + geboren 1963 + Studium der Mathematik, Kunst und evangelischen Religionspädagogik, Lehrtätigkeit am Gymnasium + freie künstlerische Arbeit  + lebt in Weißenfels + Initiatorin und Leiterin des Kunst und Kulturprojektes BRAND-SANIERUNG

Kontakt: Atelier, Novalisstraße 13, 06667 Weißenfels + Tel.: 03443 207053 + www.christinasimon.de + www.brand-sanierung.de