Novalis schreibt am 18. Februar 1790 an Friedrich Christian Brachmann in
Leipzig: „…Sie leben in Pleis – Athen, aber wir an den Ufern der Saale leben wie
in Böotien fern von den Musen und ihren Tempeln!“
Wenn der am Ende seines Lebens dem Wahnsinn verfallene Friedrich Nietzsche
seinen letzten Gruß an Cosima Wagner mit „Ariadne, ich liebe Dich“, oder
seine Briefe mit „Dionysos“ unterzeichnet, dann kann man das entweder belächeln
und als Spleen abtun, oder man kann einmal über die Methode von
Rollenbewusstsein und den Zusammenhang zwischen antikem Mythos und
realem Sein nachdenken.
Im Privileg des Künstlers, wie ich es genießen darf, verbindet sich beides. Ohne
falschen Verdacht zu erregen – der verhängnisvolle Ruf nach Vasallentreue der
Nibelungen aus dem Dritten Reich dröhnt uns noch immer in den Ohren –
darf ich mich mit Liebe und Leidenschaft der mythologischen Gestalten annehmen,
in sie hineinschlüpfen, mitspielen und für einen Moment ein Teil der großen
Figurenaufstellung sein. Ungeachtet der Vernunft und außerhalb der Moral.
Nicht zuletzt sympathisieren wir ja gerade deshalb mit diesen Gestalten,
weil wir etwas von ihrer Kraft in uns selber spüren oder weil sie zu uns gehören,
Teil unseres eigenen Beziehungsgefüges sind.
Der künstlerische Schaffensprozess, ein Bühnenschauspiel – Drama oder Komödie.
Die griechische Mythologie entfaltet einen schier endlosen Kosmos von Schicksalen.
Wollte man sich in jede Figur und deren Taten verlieben und ihr Format
geben, dann würde die eigene irdisch begrenzte Lebenszeit kaum ausreichen.
Die griechischen Mythen also: ein unerschöpflicher Born an Möglichkeiten!
So greife ich mir als Künstlerin das heraus, was mir auf meiner Reise durch
Griechenland begegnet ist, was mich angeht, mich nährt.
Marsyas, Minotaurus, Pan oder die Kentauren – all die chimärenhaften dionysischen
Wesen erfahren zuerst meinen inneren Zuspruch. In ihnen wird das
feminine Bedürfnis nach Muse und Gefühl, dass durch die animalische Kraft
mit vertraut männlicher Attitüde zum Durchbruch kommt, miteinander vereint:
das, was uns im „eigenen Haus“ oft wie die Quadratur des Kreises erscheint
und wonach wir uns sehnen, weil Vernunft, Kultur und Konventionen uns im
Wege stehen und unsere Vitalität ausbremsen.
Die chthonische Verbundenheit, nach dem Ideal, dem Göttlichen zu streben,
den Himmel ergreifen zu wollen, ohne die Bodenhaftung zu verlieren, in dieser
Welt und bei den Menschen bleiben zu wollen, führt nicht nur den Gelehrten
und Künstler immer wieder an die eigenen Grenzen. Fast täglich müssen wir
wie Minotaurus im Labyrinth mit uns selbst ringen, sind des Kämpfens oft müde
und geben uns manchmal geschlagen ; oder wir werden wie
Marsyas von einer numinosen Übermacht in die Schranken gewiesen, wenn
uns Selbstvertrauen und Selbstherrlichkeit für einen Moment beflügeln und wir
abheben dürfen.
Dass Wertesysteme und Kulturen oft unvereinbar sind, erfahren wir auch täglich
in unseren eigenen Beziehungen, die so kompliziert wie nur irgendetwas zu
sein scheinen. Die zwar in ihren Körpern, und damit im Kern, einander verwachsene
Lapithin und der Kentaur zeugen von dieser Widersprüchlichkeit. In
beiden driften zwei völlig fremde Kulturen aufeinander. Das raue Bergvolk der
Lapithen, Sturmdämonen genannt, und die feinsinnigen weinlüsternen Kentauren,
animalisch aber sensibel. Die Begegnung endet blutig. Ich fühle mit
und senke traurig den Blick vor diesen unlösbaren Problemen.
Medea. Da sitzt sie nun, die Königstochter aus dem archaischen Kolchis – das
immerhin das Gold hatte – einem Manne gefolgt, den eigenen Gott und das
Vaterland verraten. Das mag hart klingen, man könnte auch sagen, sie ist
ihren Gefühlen und der Liebe zu einem Manne erlegen, gescheitert, von ihm
betrogen und selbst verraten. Sie ist in Korinth angekommen, in einer raffinierten
Hochkultur. Hier regieren die Musen, stehen prächtige Tempel, und entstehen
feinste Keramiken. Jason denkt anders, politisch, rational, weitsichtig, will
die Zukunft seiner Kinder in seiner Gesellschaft sichern und wendet sich einer
anderen Frau zu. Medea sitzt noch im Hochzeitskleid da. Ihr Ideal ist zerbrochen.
Eine Welt um sie stürzt ein. Sie wurde ihrer Existenz beraubt, war aber
charakterstark genug, um sich nicht dieser Hochkultur anpassen zu
müssen.
Haben wir nicht täglich mit Lebensbrüchen zu schaffen, scheitern nicht viel zu
oft Ehen, zerbrechen Freundschaften, verraten Menschen einander?
Das Barbarische begegnet uns nicht nur im Mythos und bei den griechischen
Göttern, sondern auch in unserer Welt, ist im Wesen jedes Einzelnen präsent.
Die dunklen Seiten, das Unterbewusste und Zweifelhafte sind Bestandteile des
ganzen Menschen. Das hat nicht erst Siegmund Freud erkannt, sondern wird
in den alten antiken Mythen vergegenwärtigt und uns so schön narrativ und
plastisch vor Augen geführt, ohne dass das Bewusstsein unbedingt Schaden
nehmen muss. Hier könnten wir von den alten Griechen oder der Mystik des
Orients wieder lernen.
„Archetypen“ nennt C.G. Jung diese für unsere Natur typischen „Urbilder“, in
denen wir uns immer wieder spiegeln, mit denen wir uns auseinandersetzen
oder identifizieren müssen.
Hekate-Demeter-Persephone, das klassische mythologische Mutter-Tochter-
Dreigestirn, das die gesamte Spannbreite zwischen Geburt, Fruchtbarkeit und
Tod entfaltet.
Ich hatte das Glück, als ich mich diesem Thema näherte und die Auswahl der
Figuren traf, dass ich einige Tage bei meiner „jung-alten“ Mutter auf dem Lande
verbringen konnte. Es war Sommer, Erntezeit. Gerne radelte ich in der
Abendsonne über die Felder. Dank Demeter, der Weizenkönigin, deren Groll
und Schmerz über den Verlust ihrer Tochter Persephone, die sie an den Herren
der Unterwelt abtreten musste, sich gelegt zu haben schien, stand das Getreide
in diesem Jahr goldgelb in voller Reife. Es wartete darauf, geerntet zu werden.
Kindheitserinnerungen kamen auf. Die mühevolle Feldarbeit der Mutter,
der Weg zur Schule nach Goseck, an dem das siebentausend Jahre alte Sonnenobservatorium
steht, das uns erst recht über unser eigenes Dasein nachsinnen
lässt, und das alte Wirtshaus, mein Elternhaus, das mit allem Inventar noch so
da steht, wie zu der Zeit, als das Geschäft noch florierte und so mancher sich
des Abends berauschte. Da brauchte es nicht viel Phantasie, die Götter wieder
lebendig werden zu lassen und dem Mysterium der Kindheit zu huldigen.
Persephone passiert Demeter, die, wie die Gottesmutter einer Pieta, vor Schmerz
zerbröckelt und wieder in die Ewigkeit eingeht.
Wo anders erhalten Lebenslust und Verlust von Leben eine solche Verdichtung
und orgiastische Gestalt wie in den Mysterien von Eleusis? Über zweitausend
Jahre hat sich der Demeter-Dionysos-Kult dort behauptet. In Gedanken ziehe
auch ich mit den Priestern im Morgengrauen wie ein Myste von Athen nach
Eleusis und lasse mich für einen Moment entrücken, am Ort meiner Kindheit,
wo die Welt damals noch heil und abenteuerlich schien.
Nichts anderes als die Heilung der Seele versprachen die Mysterien, wenn sich
die Körper auf die Orgien einließen und der Geist sich dabei läutern konnte –
für einen Moment der Welt entfliehen, sich auf das Irrationale und Imaginäre
einlassen zu können, sich darin üben, den Schrecken und Turbulenzen des
Alltags zu widerstehen. Rituale und Liturgien als Handläufe und Gerüste für ein
gelingendes Leben, auf die man sich einlassen sollte, da sie einen Rahmen
spannen, in dem man gehalten wird und worin man das Imago immer wieder
frei entfalten kann.
Die Mysterienkulte haben sich lange behauptet, bevor sie von den Sakramenten
des Christentums abgelöst wurden. In der orthodoxen Kirche nennt man
diese heute noch Mysterien, die katholische Kirche zelebriert den Universalgedanken
liturgisch, auch wenn sie die alte lateinische Messe aufgegeben hat.
Eine Religion ohne Kultus, die sich auf die moralische und soziale Ebene bescheiden
lässt, verstümmelt sich selbst.
Ob Demeter oder die Gottesmutter von Ephesus, Christus oder Dionysos bzw.
Herakles, ob heidnische oder christliche Mysterien, nichts ist neu erfunden,
vieles lässt sich in seiner Deutung aufeinander beziehen. Darüber gibt es bereits
seit der Antike hervorragende Schriften. Aber immer wieder neu emotional ergriffen
zu sein, sich wie meine „Hühnerheilige“, die Kore mit dem Steinhuhn, in
den Zustand der Weihe zu bringen, um überhaupt aus dem eigenen Vorzimmer
heraustreten zu können, das können nur wir selber leisten. Und dazu ist es
manchmal nötig, nur für einen Moment Ariadne oder Dionysos zu sein, ohne
gleich für meschugge gehalten zu werden.
Athen und Leipzig sind Städte mit reichhaltiger Kunst und Kultur. Hier lässt es
sich flott leben. Und wenn auch in Weißenfels an der Saale nicht die Tempel der
Musen stehen, die Hauptdarsteller sind alle da, und mit ein wenige Phantasie
und kosmopolitischer Verve kann man sogar in Ruinen die Fülle, die Schönheit
und den Sinn des Lebens begreifen.
Christina Simon
Christina Simon
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